Warum lesen junge Menschen Lokalzeitung? Wir machen ein Experiment: Der Auszubildende Hendryk (23) testet für zwei Wochen die WAZ. Die Ergebnisse veröffentlicht er in seinem Blog und hier bei “Was mit Medien.” Eine Einführung gibt es hier. Die nächsten Teile seiner Serie könnt ihr in den kommenden Tagen an dieser Stelle nachlesen.
VON HENDRYK SCHÄFER
Nun ist es schon einige Tage her, dass mein WAZ-Probeabo auslief und irgendwie gelang es mir auch, das aufzuschreiben, was ich dabei erlebte und empfand. Allerdings waren diese Beiträge nicht unbedingt das, was ich persönlich als wirklich konstruktiv empfinden würde. Sicherlich, einige Anmerkungen gab es schon, die durchaus jemandem etwas bringen könnten, aber im Großen und Ganzen war es eher ein „Tu‘ das nicht! Hör‘ damit auf! Lass‘ das sein!“. In diesem, vorerst letzten Beitrag wird das alles anders, hier kommt meine geballte Wut konstruktive, positive Kritik, hier kommen meine Wünsche an eine Tageszeitung, die ich gerne lesen möchte!
Teil eins fokussierte sich dabei auf die Ausgangssituation, die Anforderungen und das faktische Angebot der WAZ und wird endete mit den Schwächen. In diesem Teil geht es dann um die Stärken der WAZ und um mich und meine Anforderungen. Daran anknüpfend stelle ich meine Wunschzeitung vor, konfrontiere sie mit der Realität und versuche zu einer Lösung zu kommen.
Ein eigentliches Fazit, einen Rückblick und eine abschließende Einschätzung gibt es dann – im dritten Teil.
Die Stärken der WAZ
Es ist immer leicht, an anderen herum zu nörgeln. Gutes zu benennen, fällt oft schwerer, vielleicht auch, weil es so selten wirklich auffällt, oder, um es in den Worten Gerrit van Aakens auszudrücken: „Ich entdecke jetzt, was schlechte Lesetypografie anstellt: Man bemerkt sie“.
Also habe ich gesucht und gesucht, aber über solides Mittelmaß kam ich dann doch leider selten hinaus, und ich will die WAZ auch nicht degradieren, indem ich ihre Mittelmäßigkeit als Stärke herausstelle.
Die wirklichen Stärken der WAZ sind leider selten eigene Leistungen – klingt hart, ist aber so und lassen sich mit Orpheus, Arachne und Zeus benennen. Man verzeihe mir bitte diesen, zugegebenermaßen weit gespannten Bogen und sei auf meine Ausführungen gespannt.
Orpheus: Man muss sie nur reden lassen …
Wenn man sich meine Tiraden so anhört bzw. durchliest, dann mag man es kaum glauben. Jaaa, auch die WAZ kann erzählen, sie kann richtig gute Geschichten erzählen, gründlich recherchiert, gut geschrieben, stimmig bebildert, und das über mehr als zwanzig Zeilen hinweg. Das klingt jetzt sehr spöttisch, ist aber eher ein Ausdruck meiner Enttäuschung, denn da spielt auch hinein, dass die WAZ so selten so gute Artikel veröffentlicht sondern viel öfter durch kleinere und größere Fehler auffällt oder zumindest länger im Gedächtnis bleibt.
Nichtsdestotrotz: Die Reportage über die Auflösung eines Klosters ist mir noch jetzt ziemlich präsent, und das will schon was heißen.
Arachne: Im Netz kennt sie sich aus
Man mag derwesten.de nicht für das schönste Tageszeitungsportal halten, nicht für das schnellste, innovativste oder größte, aber es hat Hand und Fuß und einen unwiderstehlichen Charme – wenn man auf den breiten Spagat zwischen toll twitternder Chefin vom Dienst und pöbelndem, aber immerhin registrierten Mob steht.
Eines muss man derwesten.de nämlich wirklich lassen: Das Schaufenster mit den fünf Topmeldungen fällt auf, auch wenn mein Netbook (und wohl nicht nur meins) schon vor der ersten „richtigen“ Meldung zu Ende ist. Die Trennung der Meldungen in regional und überregional trägt zwar dazu bei, dass ich die Seite als nicht sonderlich luftig empfinde, ist aber doch ein gutes Alleinstellungsmerkmal und zeigt doch deutlich, dass die WAZ (mit der NRZ und der WR und der WP und dem IKZ) eine regionale Tageszeitung ist. An dieser Stelle ist derwesten.de nicht verwechselbar, wie es viele andere Websites von Tageszeitungen sind, weil sie alle mit den großen bundespolitischen Ereignissen aufmachen. Das können die überregionalen Tageszeitungen taz, Frankfurter Rundschau, FAZ, Süddeutsche und das Klopapier mit den vier Buchstaben zumeist besser.
Dass DerWesten fleißig Facebook nutzt und twittert als hätten sie Ahnung davon und Humor (Hey, das war ein Kompliment!), ist absolut lobenswert und toll; in Sachen Facebook wüsste ich nur Antenne Düsseldorf mit einer ähnlichen Kompetenz und bei twitter ist nur die Rhein-Zeitung aus Koblenz vergleichbar gut.
Schade nur, dass die Community leise ablebte und dass die Blogs von DerWesten über keinen RSS-Feed verfügen. Sicher, so ist jeder Aufruf ein gezählter Klick (ich sage nur „Auflage“ und möchte die IVW grüßen), aber eher suche ich nach einer Lösung, doch noch das wirklich gute Rechercheblog zu abonnieren als dass ich immer und immer wieder dieselbe Seite aufriefe um nach Neuigkeiten Ausschau zu halten. Schlimm, diese Geeks und Nerds.
Wenn man mal die Qualität der Beiträge außen vor lässt, ist DerWesten gar nicht mal so schlimm, wenn nicht, aber auch.
Zeus: Statt einmal täglich nach Cupertino zu beten
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie die WAZ das Projekt „ZEUS Zeitung und Schule“ ins Leben rief und ich war drauf und dran, meinen damaligen Deutschlehrer darauf einmal anzusprechen – wenn mich dann nicht so viele Artikel in Folge verärgert hätten, dass ich daraufhin arge Zweifel bekam, ob denn die WAZ die richtige Partnerin dafür wäre, jungen Menschen Lese- und Schreibkompetenz und Einblick in journalistische Handlungsweisen beizubringen. Dass die WAZ in späteren Jahren Lesepatenschaften vermittelte (Unternehmer spenden Klassensätze der Tageszeitung, damit mit der Zeitung im Unterricht gearbeitet werden kann) fand ich im Prinzip genauso gut, nur wieder war es die WAZ als Objekt der Patenschaft, die mich störte, zumal stets von dadurch gewonnenen Partnern das Hohelied der Zeitung gesungen wurde, welche in ebendiesem Fall die WAZ war, deren Schwächen mich tagtäglich ansprangen.
Aber gut, zurück zu ZEUS: Medienkompetenz ist wichtig, und dass die WAZ sich darum bemüht, indem sie ihr Können (ja, das hat sie durchaus) in Sachen journalistischer Praxis weitergibt, dann tut sie wirklich etwas Gutes. Ich sag’s mal so: Ich mag Menschen, die fähig sind, Quellen einzuschätzen, mehrere Standpunkte einzuordnen und Argumente abzuwägen, die in der Lage sind, sich aus mehr als nur einer Meldung eine Meinung zu bilden, ich mag Menschen, die Ansichten hinterfragen können und sich nicht mit einem Furz von einem Statement abspeisen lassen – und wenn die WAZ mit ZEUS diese Fähigkeiten weckt und fördert, dann kann ich das nur gutheißen.
Das war die WAZ, jetzt komme ich
Ich habe es ganz zu Beginn einmal erwähnt: Ich bin kein einfacher Zeitungsleser, ich bin nur deshalb kein unbequemer Zeitungsleser, weil ich mich zu selten daran setze, meiner Zeitung einen geharnischten Leserbrief zu schreiben und ihr ihre Verfehlungen vorzuhalten und zu loben, was es zu loben gibt – und weil das aktuelle Angebot an Zeitungen nicht das Geld wert ist, was ich dafür ausgeben soll. Dabei bin ich durchaus bereit Geld zu geben für eine gut gemachte Zeitung, und nicht wenig; ich hätte gut und gerne als Schüler die taz zum ermäßigten Preis beziehen können, aber als sie den NRW-Teil noch hatte, war sie mir den normalen Preis von 30 Euro im Monat durchaus wert – aber dafür will ich auch etwas geboten bekommen, was über einen ungesund erhöhten Blutdruck hinausgeht.
Ich gestehe, „meine“ Zeitung wäre eine andere als die WAZ wie sie derzeit ist, eine sehr andere, schon weil mir die Gestaltung der WAZ absolut nicht zusagt. Aber davon einmal abgesehen habe ich Ansprüche, die ich von der WAZ nicht ausreichend erfüllt sehe.
Ich möchte sehr gut informiert werden, durchaus, vor allem politisch und lokal. Ich möchte auch sehr gerne längere Artikel lesen, gut recherchiert und gut geschrieben. Ich möchte Geschichten lesen, die spannend und wichtig sind, die ich anderswo nicht zu lesen bekomme. Ich möchte solides, gut gemachtes Handwerk serviert bekommen, stimmig-stimmungsvolle Bilder dazu. Ich möchte eine Zeitung, die zu meinen Lebensumständen passt!
Meine Wunschzeitung
Meine Wunschzeitung weiß, dass ich morgens im Zweifel nicht die Zeit habe, sie ganz durchzulesen und sie deshalb mit auf den Weg zur Arbeit nehme, ich kann sie im Tabloidformat halbwegs bequem in Bus und Bahn lesen.
Meine Wunschzeitung kennt sich bestens in meiner Stadt aus und weiß ihr neben der Einordnung des politischen Geschehens tagtäglich spannende Geschichten zu entlocken und nicht nur einen Blaulichtreport nach dem anderen. Sie verbindet die gedanklich so weit entfernten Nachbarorte mit dem, was hier passiert und wird so zum lebenden Beispiel der Metropole Ruhrgebiet, das nicht an der Stadtgrenze aufhört. Sie kann und will nicht auf die Familienanzeigen verzichten, weil sie die Quelle dafür ist, auf die sich noch die meisten Menschen einigen können.
Meine Wunschzeitung sieht das Ruhrgebiet nicht als Nebeneinander der Städte, die außerhalb städteübergreifender Kooperationen nichts miteinander zu tun haben, sie sieht das Ruhrgebiet als einen Raum, in dem alles, was irgendwo geschieht, eine Aktion oder Reaktion auf Zustände im gesamten Ruhrgebiet sein kann.
Meine Wunschzeitung hat den Mut, regionale Themen zum Titelthema zu machen und bietet dennoch einen guten politischen Teil, sie weiß regionale Themen zu finden, die die ganze Region interessieren; sie bricht nicht nur die großen Zusammenhänge auf’s Kleine herunter sondern rückt auch die kleinen Dinge in den großen Zusammenhang.
Meine Wunschzeitung nutzt die Meldungen der Nachrichtenagenturen, um ihre Leute darauf anzusetzen, was den Agenturen entgeht. Sie nimmt sich die Zeit zu warten bis die Geschichten stimmig sind, bis die Fakten recherchiert sind, selbst wenn sie dann nicht die erste mit einer Meldung ist. Sie muss nicht alles selbst machen, wenn andere ihr dabei helfen können.
Meine Wunschzeitung muss keine Videos produzieren können. Sie muss nur wissen, wer es kann und wann es sinnvoll ist.
Meine Wunschzeitung kennt keine Trennung zwischen „online“ und „offline“, sie ignoriert die Unterschiedlichkeit der Kommunikationswege, wenn es ihr darum geht Rückmeldung zu erhalten und nutzt die Unterschiedlichkeit für dem Medium angemessene Kommunikationsformen. Sie veröffentlicht Leserbriefe auch online und bringt Kommentare unter einem online publizierten Artikel in die Zeitung. Sie nutzt Social Networks wie Facebook und twitter zur Verbreitung ihrer Beiträge und zur Diskussion genauso wie zur Recherche, sie steht technischem Fortschritt positiv, aber kritisch gegenüber und brennt darauf neue Medien für sich zu entdecken und zu nutzen. Sie will ihren Leser_innen nicht ihre Weisheiten verkünden sondern stets aufs Neue ihr Wissen verbreiten und darüber in einen Diskurs treten.
Meine Wunschzeitung will gekauft werden, ob am Kiosk oder online. Sie bietet offline wie online attraktive, kurz laufenden Abonnements mit geringer Kündigungsfrist genauso wie lange laufende Verträge und offeriert online niedrigschwellige Bezahlmethoden, die das Kaufen von Artikeln im Internet genauso einfach werden lassen wie den Erwerb von Musik. Sie hat den Mut, all ihre Artikel online zu stellen. Sie lässt sich dort gerne bezahlen, für den Mehrwert, den ihr der unbeschränkte Platz bietet, für gute, journalistische Arbeit, aber sie zwingt niemanden dies zu tun.
Meine Wunschzeitung ist fundamental sachlich, meinungsstark und seriös.
Und nicht zuletzt sieht meine Wunschzeitung dabei auch noch verdammt gut aus und wird aus pflanzlich basierten Farben auf Umweltpapier von ökostrombetriebenen Druckmaschinen in einer solarzellengedeckten Produktionshalle gedruckt!
Der Zwang der Notwendigkeiten
So schön meine Wunschzeitung auch wäre, ich wüsste nicht, wie sie rentabel arbeiten könnte. Ich sehe ein, dass die WAZ Geld verdienen will und muss und dass das vorwiegend über eine hohe Auflage, den daraus resultierenden Umsatz und geringe Produktionskosten funktioniert. Ich sehe ein, dass die WAZ dazu möglichst viele Menschen erreichen muss und ich kann auch nachvollziehen, dass dazu die Produktion günstig sein muss. Ich will jetzt nicht über die Sparmaßnahmen der WAZ Mediengruppe lamentieren, das tat ich bereits vor geraumer Zeit, aber Klatsch und Tratsch gehen mir, mit Verlaub, am Arsch vorbei. Der Adel ist abgeschafft und die Schwangerschaft einer Kollegin interessiert mich mehr als die potenziell mögliche Schwangerschaft einer angeheirateten Frau eines Nachkommens eines Nachkommens eines Nachkommens eines Adeligen, die seinen Namen und möglichen Nachkommen trägt. Basta!
WAZ sollen wir schreiben? Ein Zeitungsproduktions-Experiment
Der WAZ geht es nicht sonderlich gut. Konnte sie in Herne vor im vierten Quartal 2000 noch 33.508 Abonements verkaufen, waren es im selben Zeitraum 2010 nur noch 22.331 Abonnements. Selbst wenn man davon ausgeht, dass jede Herner WAZ von mehr als einer Person gelesen wird, sind ein Abonnementverlust von rund 33 Prozent eine Hausnummer. Im gesamten DerWesten-Gebiet, welches auch noch die Westfälische Rundschau, die Westfalenpost, die Neue Ruhr/Neue Rhein Zeitung und die Iserlohner Kreisanzeiger umfasst, sieht es mit 739.650 zu 1.012.202 Abonnements und fast minus 27 Prozent nicht viel besser aus (Quelle dieser Zahlen: ivw.eu)
Mit DerWesten.de hat die WAZ schon einmal etwas riskiert, warum sollte sie das nicht wieder tun? Wie die Lage derzeit so schlecht ist? Die WAZ hat schon Sonderbeilagen im Tabloidformat gedruckt, warum sollte sie das nicht öfter tun? Erst jüngst hat sie damit begonnen, ein Wirtschaftsmagazin (PDF) als Beilage zur Zeitung zu vertreiben.
Auch wenn das Tabloidformat nicht den besten Ruf hat, und auch wenn die WAZ nicht als Speerspitze des Journalismus gilt, könnte man doch diese Ausgangssituation doch für etwas fast schon Neues nutzen.
Anstatt direkt die WAZ über den Haufen zu schmeißen und komplett zu verdammen (auch wenn es mir bisweilen leichtfiele), ließe sich doch gerade die Wochenendausgabe bzw. das Wochenend-Buch, welches mir schon länger als das schlechteste aller Bücher im Gedächtnis blieb mal komplett neu denken. Erklären wir das Wochenend-Buch kurzerhand mal, weil es so schön prägnant ist, zur Wochenend-WAZ und verbinden sie mit den folgenden Attributen.
Die Wochenend-WAZ ist klein im Format, erzählt aber die großen, gut recherchierten Geschichten. Die Wochenend-WAZ langweilt nicht mit umgeschriebenen Agenturmeldungen, weil sie sich aus dem Geschehen der Tageszeitung ausklinkt, sondern bietet durchaus ganz- und doppelseitige Reportagen. Die Wochenend-WAZ braucht keine immer gleichen Restaurantkritiken, CD- und Buchrezensionen, wenn die Werktags-WAZ das schon bietet. Die Wochenend-WAZ bietet Platz für große Debatten. Die Wochenend-WAZ bietet, weil es sonst zu kurz kommt, einen tiefen Einblick in die Diskussionen der Social Networks und Blogs.
Kurz: Die Wochenend-WAZ ist das Angebot für die gebildeten, anspruchsvollen Leser_innen, die sich selbst als Digital Natives oder Digital Residents sehen können und von der Alltags-WAZ nicht zufriedengestellt werden können. Die Wochenend-WAZ bietet dieser Gruppe die langen Texte, die sich am Bildschirm oft so schlecht lesen lassen. Die Wochenend-WAZ ist eine Zeitung in der Zeitung, sie ist eine Tabloid-Wochenzeitung ohne tagesaktuellen Zwang als Beilage zur Tageszeitung.
Wenn das nicht mal was wäre.
Einen allerletzten Rückblick auf das zwei Wochen dauernde Probeabo und eine Antwort auf die Frage, ob ich nun die WAZ weiterlesen werden und wenn ja, warum nicht, erfahrt ihr dann im nächsten Post.
Die Serie WAZ sollen wir lesen erscheint ab sofort auch auf “Was mit Medien”, nachdem Hendryk die Texte bereits in seinem Blog veröffentlichte, so auch diesen Teil 9.
Tipp: Uns gibt es auch als RSS-Feed in verschiedenen Geschmacksrichtungen. Hier gibt es unsere Texte aus dem Blog und hier gibt es unseren wöchentlichen Podcast.