Wäre der Medienwandel eine Buchreihe, wie müsste das Inhaltsverzeichnis für 2022 aussehen? In unseren Folgen zum Jahresauftakt haben wir 17 Themenstränge identifiziert und die aktuelle Entwicklung für euch zusammengefasst.
Damit könnt ihr eure individuellen Bereiche aussuchen, auf die ihr euch in diesem Jahr in eurer Medien-Arbeit fokussieren möchtet. Eine gute Nachricht vorweg: Es wird kein “nächstes Großes Ding” auftauchen.
Dringende Themen für 2022
👉 Social-Media komplett verstehen: Social-Media ist mehr als die Distribution von Inhalten und der Hoffnung, dass die Leute schon auf die eigene Plattform folgen. Es ist bescheuert (O-Ton aus dem Podcast 718), das im Jahr 2022 für Medien noch einmal betonen zu müssen. Auch Engagement- und Community-Aufgaben gehören nicht nur dazu, sondern sind inzwischen auch erfolgsrelevant.
👉 Talent-Management: Den Trend zu weniger Bewerbungen auf jeden Volo- oder Journalistenschulen-Platz kennen wir, aber wie oft Redaktionen in der Fläche und Häufigkeit unbefristete Redaktionsstellen nicht mehr besetzt bekommen und seit Corona mehr Kolleg*innen kündigen, um dann nicht mal in der Kommunikation, sondern in ganz anderen Branchen zu arbeiten, wird noch wenig in der Medienszene offen thematisiert. Medien scheinen sich zu wenig darum gekümmert zu haben, wie es ihren Mitarbeitenden nach all den Reformen und Umstrukturierungen geht. Auch scheinen sie nicht mitbekommen zu haben, dass andere Branchen sich mit einem besonderen Talent-Management nach innen und außen fit für einen neuen Arbeitsmarkt gemacht haben. Ein dickes Brett für 2022.
Spätestens 2022 ein Pflichtthema
👉 Kapazität — das Thema wird bisher bei Social-Media-Strategien selten richtig mitgedacht (siehe die beiden vorigen Punkte). Für Redaktionen wird immer irgendwie noch eins drauf gepackt. Erst Social-Media, dann Newsletter, jetzt Podcasts. Und was ist mit der Community? Es ist offensichtlich, dass ein Team schnell an seine Grenzen kommt und die neuen Kanäle nur ganz okay funktionieren.
👉 Weglassen — eine hohe Kunst im Medienbereich. Aus zwei Gründen: Einmal drücken sich Medienschaffende vor Veränderungen ihrer Routine und dann haben sie eine unglaubliche Treue zu einmal getroffenen Entscheidungen. Was vor Jahren für User eine gute Idee war, kann der Zielgruppe aber heute schon egal sein. Nur: Hat das die Redaktion schon mitbekommen? Wann haben wir das letzte mal alle Standards auf ihre Aktualität abgeklopft?
👉 Warum folgen Menschen einem digitalem Angebot? Oft stoßen Medien mit ihren Social-Kanälen, Newslettern oder Podcasts an eine Glasdecke. Die Userzahlen wachsen nicht mehr. Warum? Ein Blick auf die eigenen Angebote aus User-Sicht hilft weiter. Im Zuge der populären Formatentwicklung ist das ein wichtiges Thema.
Weiter wichtig, nur aus anderen Gründen
👉 Newsletter — weniger als Distributions- sondern mehr als Community-Tool verstehen: Um eine Zielgruppe an sich zu binden, müssten Redaktionen interagieren. Immer mehr Newsletter wollen in bereits volle Postfächer. Ohne Community-Konzept haben es Angebote künftig schwer, sich im mittlerweile dichten Markt durchzusetzen.
👉 Podcasts — bisher haben viele Redaktionen mit unterschiedlichen Formaten experimentiert. News-, Fußball- und True-Crime-Formate sind meist im Angebot. Der nächste Schritt wird sein: Podcasts auch strategisch einzubinden. Es gibt da viele Möglichkeiten. Die Zeiten des Selbstzwecks sind langsam vorbei.
👉 Distribution — nicht neu, aber ignorieren geht nicht mehr: Redaktionen können es sich nicht mehr leisten, nur Inhalte zu erstellen ohne sich über die passgenaue Verbreitung Gedanken zu machen. Automatisierung wird dabei aber immer öfter helfen.
👉 Paid-Newsletter & Paid-Podcasts — und zwar nach dem Netflix-Prinzip. Die New York Times nutzt Newsletter nicht mehr nur im Verkaufsprozess des Digital-Abos oder zur Bindung der zahlenden User, sondern setzt exklusive Newsletter als eigenes Produkt hinter die Paywall. Ein Abo für den Zugang zu all den Premium-Serien —Verzeihung— Premium-Newslettern. ThePioneer hat auch im zweiten Jahr am Markt einige neue spezialisierte Podcast-Formate gestartet, die exklusiv nur für Mitglieder abrufbar sind. Wie die Geschäftsführung in Brancheninterviews berichtet, funktioniert das Konzept gut: Bisher sind alle Abo-Ziele übertroffen worden. Und das nicht zu knapp.
👉 Zielgruppen — ja, alle wollen neue Zielgruppen erreichen. Alle wollen auch junge Zielgruppen erreichen. Aber ein TikTok-Kanal ist selten die richtige Antwort. In deutschen Redaktionen hat das Wort Community einen altbackenen Beigeschmack. Durch die Audience-Engagement-Brille geblickt, ist ein modernes Community-Verständnis aber überfällig. Eine Community beschreibt User, die aus einer definierten Zielgruppe regelmässig erreicht werden und die Angebote der Medienmarke auch regelmäßig aktiv nutzen. Diese User erwarten aber ein echtes Interesse durch die Medienmarke an sie. Interaktions-Simulation ist da nicht gefragt.
👉 Entbündelung — bisher bieten Newssites ein Abo für alle Inhalte an. Ein Produkt mit vielen Themenbereichen um möglichst viele Menschen anzusprechen. Der Blick in den E-Commerce zeigt: Digitale Produkte verkaufen sich einfacher und zudem hochpreisiger, wenn sie nur eine Zielgruppe bedienen (Ausnahme: Netflix & Spotify — sie schaffen auf einer anderen Ebene einen Wert für die User). Bisher haben sich Audience-Development-Teams vor allem mit externen Kanälen beschäftigt. Kommt jetzt der Fokus auf die eigenen Angebote? Ein erster Schritt: Newssites könnten Digital-Abos personalisieren und einzelne Autorinnen abonnierbar machen. Das zahlt auch auf das nächste Thema ein.
👉 Journalistische Creator — auch in Deutschland gibt es mittlerweile viele Indie-Projekte, im vergangenen Jahr haben die Plattform die inhaltlichen Creator als interessante Zielgruppe und künftige Einnahmequelle identifiziert und in diesem Jahr sind klassische Medienmarken an der Reihe: Wie verhalten sie sich zur Creator-Szene. Neue Konkurrenz? Oder eine Chance für neue Konzepte, Kooperationen oder gar Innovation?
👉 Pinterest — okay, schon im letzten Jahr haben wir die Plattform als interessante Option vorgestellt. Aber erst in diesem Jahr erwarten wir Experimente aus den Redaktionen. Der Grund: Zum ersten Mal weist die ARD-ZDF-Onlinestudie die Nutzung aus. Da haben die Redaktions-Entscheider*innen bestimmt noch einmal hingeschaut: 11 Prozent der Deutschen sind wöchentlich bei Pinterest unterwegs — so viele wie bei Twitter und Linkedin zusammen.
Themen mit Pflicht-Potential
👉 Profil des Redaktions-Socials ändert sich radikal — die Job-Beschreibungen von Socials stammen noch aus den goldenen Facebook-Zeiten. Themen der Redaktion auswählen und posten, dann Kommentare sichten. Wer mit der Zeit geht, denkt inzwischen Engagement stärker mit (siehe ☝️). Nur damit ihr es schon mal gehört habt: In wenigen Jahren wird die Position des Socials ganz anders aussehen (müssen). Spätestens wenn Facebook sich für die neue Zielgruppe der bis zu 25-Jährigen neu erfunden hat, wird das Thema Video auch dort die Inhalte prägen. Themen und Geschichten in echt guten Online-Videos erzählen und selbst vor die Kamera treten — diese Kompetenzen werden für Socials wichtiger.
👉 Audio-Rooms — okay, auch wir fanden das Clubhouse-Phänomen lustig. Aber: Twitter Spaces und Facebook Audio Rooms bieten Social-Audio-Lösungen, die bereits von einem Grundrauschen gerne genutzt werden. In Umfragen haben Unternehmen angekündigt, das Thema Live-Audio in der Kundenkommunikation strategisch nutzen zu wollen. Irgendwann werden sich Medien auch die Frage stellen: Können wir Angebote entwickeln, die unsere Zielgruppen gerne nutzen und wir gleichzeitig mit unseren Social-Audio-Aktivitäten auf unsere Redaktions-Ziele einzahlen?
Relativ neu auf dem Medienwandel-Radar
👉 Generation Alpha — wer nach 2010 geboren wurde, gehört dazu. Eine Generation die eine Welt ohne Smartspeaker, Auswahl-Algorithmen und Künstliche Intelligenz nicht kennt. Sie entwickeln ganz andere Anforderungen an Medien. Das wird eine interessante Dynamik in den Medienwandel bringen.
👉 Metaversums-Journalismus — das Thema ist größer als die Vision von Mark Zuckerberg. Web3, Krypto und NFT sind die Stichworte. Alles nur eine Blase? Oder doch der digitale Alltag von morgen? Wir werden mittelfristig lernen (müssen), wie man über das Metaversum berichtet und die Entwicklung kritisch begleitet.
Diskussion: Auf welche Themen fokussiert ihr euch? Verratet es uns gerne in den Kommentaren.
Was mit Medien Podcast — unsere Folgen zum Jahreswechsel:
- Wie war das Medien-Jahr 2021, Hajo Schumacher?
Episode 717: Neben dem traditionellen Jahresrückblick, geht es auch um neue Anforderungen an Journalist*innen in 2022. - Wie verändert sich die Social-Media-Welt 2022, Franziska Bluhm?
Episode 718: Die Journalistin und Digitalstrategin hat zusammen mit unserem Kollegen Dennis Horn die zentralen Veränderungen zusammengestellt. - Welche Innovation erwarten wir 2022, Alexandra Borchardt?
Episode 719: Mit der Journalistin und Forscherin sprechen wir über gesellschaftliche Herausforderungen und Trends, die Innovation im Journalismus treiben oder bremsen werden. - Bonus-Folge: Was mit Medieninsider (2)
Welche Medien-Sorgen und Digital-Trends nehmen wir mit in das Jahr 2021? Darüber reden Daniel Fiene und Marvin Schade (Chefredakteur von Medieninsider).
Im Januar folgen noch zwei weitere Jahreswechsel-Folgen. Nicht verpassen? Wir halten dich mit unserem wöchentlichen Newsletter im Loop.
Was mit Medien Daily — unser Team mit dem Medien-Blick auf 2022:
- Dennis Horn: Newsletter, Distribution, Web3 & Personenmarken
- Herr Pähler: Warum wir Murmeltier-Trends brauchen
- Daniel Fiene: Neue Aufgaben für Audio
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