Blattkritik: Die 2. deutsche WIRED is more tired than admired

Wäre die deutsche WIRED eine Serie, machte sie ihren Job phantastisch. Nach einem tonsetzenden Piloten folgt eine ordentliche zweite Episode, die für sich genommen etwas langweilig ist. So verhält es sich auch mit der zweiten Ausgabe, die ab Dienstag (10. April 2012) überall zu kaufen ist.

Eine Blattkritik von Daniel Fiene

Die Titelseite: Das ist der mit beste WIRED-Titel, den ich seit Monaten gesehen habe. Regelmässig lese ich auch die US- und überfliege die UK-Ausgabe. “Das Web steht vor dem BLACK OUT — wie es trotzdem weitergeht” ist ein düsterer aber sehr starker Titel. Dazu Smartphones mit Monster-Displays, Tumblr — ein Mann stolpert über 800 Millionen und der seltsame Fall des KIM DOT COM. Wer da nicht zugreift, hat selber Schuld.

Was vom ersten Durchblättern hängen blieb: Die Optik der ersten Ausgabe wurde fortgesetzt. Wie schon bei der ersten Ausgabe gefällt mir die deutsche Ausgabe besser, als das aktuelle Layout der US-Variante. Das ist zu simpel. Art Director Markus Rindermann hat wieder einen phantastischen Job gemacht. Beim Durchblättern stoße ich auf viele kleine, interessante Geschichten. Auf der letzten Seite angekommen, kann ich mich allerdings nur an einen der auf der Titelseite angekündigten Artikel erinnern. Den über TUMBLR-Gründer David Karp, der im Artikel aber überhaupt nichts stolperte, wie angekündigt. Aber auch nur, weil er in der aktuellen Business Punk die gleichen Klamotten trägt (sic!). Die KIM DOT COM Geschichte war ein Comic, wie ich beim Zurückblättern feststellte, welches schön anzusehen aber kaum Inhalt rüberbrachte. Die Smartphones mit dem Monster-Display habe ich übrigens immer noch nicht gefunden (ich schaue noch mal nach). Und die Titelstory? Auf die bin ich dann erst bei der ausführlichen Lektüre gestoßen, so unauffällig war die gestaltet. Vielleicht war das auch nur subtiler Humor der Redaktion, oder ein Easteregg: Das Wort BLACK OUT steht auf der Titelseite, aber nicht im Titel  des Artikels. Für alle, die schon genug Eier oder Schlüssel am Wochenende gesucht haben: “Warum das Netz am Abgrund steht” findet ihr auf Seite 60.

Die Lektüre

WIRED: Das heimliche Herzstück dieser Ausgabe ist die Titelgeschichte. Im ersten Moment war ich total enttäuscht, denn der Titel Black Out suggerierte mehr ein technologisches als ein gesellschaftliches Untergangsszenario. Tatsächlich ging es um den guten alten Kontrollverlust, in dessen Saga in den letzten Monaten ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde. Einige bezeichnen es als Kampf um das Urheberrecht. Wunderbar wird in der Titelstory der Kampf umschrieben:

“Die Frontlinien sind scheinbar klar gezogen: Hier die Masse der Internetnutzer als Kämpfer für ein freies Netz, dort die Content-Lobby, die die Kontrolle über ihre Inhalte zurückgewinnen will.”

Liebe klugen Leute der PR-Abteilung des Condé Nast Verlags, schickt doch jedem der 160 Handelsblatt-Kommentatoren aus der Kreativwirtschaft, die bei der Osterausgabe “Mein Kopf gehört mir” gegen die Piraten und gegen die sogenannte “Abschaffung des Urheberrechts” gewettert haben ein Exemplar der neuen WIRED. Ich hoffe, die verstehen dann worüber sie überhaupt geschrieben haben.

TIRED: Die Grundstimmung ist eine andere. Während die erste Deutsche WIRED optimistisch daher kam, sind jetzt Schatten  über das digitale Deutschland aufgezogen. Typisch Deutsch! Das mag aber auch einfach nur am Titel liegen. Nach der ersten Ausgabe haben einige gemeckert, wie kurz doch die Artikel waren. Auch in dieser Ausgabe hatte ich das Gefühl, dass wenn es richtig interessant wurde, schon wieder Schluss war. Die Tendenz zu längeren Artikeln wurde zwar deutlich, aber inhaltlich mehr gebracht hat es auch nicht.

EXPIRED: “Ich wusste gar nicht, was mich alles interessiert”, hat Manfred Habl auf wired.de kommentiert und es so in die Leserbriefecke der neuen WIRED geschafft. Darüber habe ich lange nachgedacht. Lösen Magazine solche Reaktionen aus, demonstrieren sie ihre wahre Stärke. Ich liebe es, wenn mich Print überrascht. Hier trage ich eine gewisse Erwartungshaltung vor mir her. Ich lasse mich durch interessante Themenzugänge, oppulente Gestaltung oder provozierende Fragestellungen überraschen. Diesen Luxus können sich Magazine leisten, bleibet er im tagtäglichen Journalismus doch auf der Strecke. Aber genau dieser Luxus kommt bei bei dieser WIRED zu kurz. Die Themenauswahl ist ordentlich und gut. Aber um sowohl Geeks als auch Otto-Normal-Surfer anzusprechen, darf es etwas mehr sein. Kaum ein Thema hat mich überrascht. Die Doppelseite vom neuen Flughafen Berlin wirkte wie mal eben schnell aus einem CAD-Programm rausgerendert und nicht so detailverliebt wie die Oktoberfest-Doppelseite der ersten Ausgabe. Irgendwie fehlte bei der Lektüre Provokation und Inspiration.

Woran lag das? Zu wenig Zeit? Der Verlag spielte ein US-TV-Network und gab erst sehr spät das Go für die Fortsetzung. Erst Ende Januar kam die Pressemitteilung mit der Ankündigung dieser Ausgabe, obwohl die Premiere Anfang September erschien! Dass eine Fortsetzung folgt, erfahren wir dieses Mal schon im Editorial. Im zweiten Halbjahr 2012 soll es soweit sein. Vielleicht ist es die Zeit, die der WIRED gut tut.

Wäre die Deutsche WIRED eine Serie, machte sie alles richtig. Denn bei der Deutschen WIRED ist es wie bei einer guter Fernsehserie: Bei den besten Serien möchte man nach den ersten drei bis fünf Episoden abschalten, bevor man dann bei der siebten merkt, wie süchtig man eigentlich danach ist.

Abspann: Auf ein Unboxing-Video musste ich verzichten, da es nichts auszupacken gab. Da hat wohl keiner an die Geeks sondern an die Umwelt gedacht (Ironie!). Meine WIRED habe ich übrigens an einem Bahnhofskiosk in Frankfurt gekauft. Am Ostersonntag. Da hat eine Aushilfe wohl nicht so genau auf den Verkaufsstart am Dienstag geachtet. Mit Freude habe ich im Zug die WIRED gelesen. Zu Hause angekommen lag ein Umschlag in meinem Briefkasten vom Condé Nast Verlag, inklusive WIRED (vielen Dank!) und Vermerk auf die Sperrfrist am Dienstag (das ist so 1992!). Aber im Zug hatte ich meine Artikel längst vorformuliert …

So eine WIRED-Lektüre ist ganz schön anstrengend. (Fotos: Ronny Hendrichs)

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Kommentare: Was sagt ihr zur neuen WIRED?

 

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