“Natürlich sind wir Parasiten” – so eine Aussage in Richtung Printmutter erwartet man nicht von einem Online-Chefredakteur. Wenn das aber der scheidende Focus-Online-Chefredakteur Jochen Wegner sagt, dann kann ihm das nicht mal sein Verleger übel nehmen. Mit seiner ruhigen, verschmitzen Art präsentierte Wegner zur Einführung des Contentgipfels auf den Medientagen München an diesem Freitag (15.10.2010) 23 Thesen zur Zukunft der Medien. Wir lernen, dass die großen Zeitungshäuser und die kleinen Spezialblogs überleben werden. Mittelgroße Zeitungen werden in Zukunft große Probleme haben. Auch können Internetseiten mit Me-Too-Inhalten keinen Blumentopf mehr gewinnen. Wie die Online-Welt nach Jochen Wegner aussieht? Das zeigen seine Thesen.
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- Journalistische Qualität ist keine Frage des Substrats. Oft sehen Print-Chefredakteure ihre Publikationsform gegenüber anderen Medien überlegen. Dem ist aber laut Wegner nicht so. Wir erinnern an Hans Werner Kilz. Der Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung scheint der lebende Beweis für diese These zu sein. (Siehe unser Beitrag: Zeitungs-Kilz the Internet-Star)
- Journalistische Qualität ist eine Frage der Ressourcen. Hier führt Wegner den Stern an. Dort seien in den 80er Jahren “bizzare Beträge in wunderbare Produktionen” investiert worden. Wegner weiß aber auch aus seinem Haus, dass die Opulenz in den Printredaktionen zurückgefahren wurde.
- Die Reichweite vieler digitaler Töchter übertrifft bald die der analogen Mütter. Diese Schere gehe immer weiter auf. Spiegel Online erreicht im Monat 10 Millionen unique User. Der gedruckte Spiegel hat pro Woche ungefähr 6 Millionen Leser. In ein oder zwei Jahren, erwartet Wegner, werden die Wochenreichweiten des Print-Spiegels von den Spiegel-Online-Reichweiten überholt.
- Die Print-Erlöse sind zehnfach höher als die Online-Erlöse, auch wenn Online eine höhere Reichweite hat. Dies stellt Wegner nicht nur bei deutschen, sondern auch internationalen Produkten fest, wie zum Beispiel der New York Times. Das sei eine “Naturkonstante”.
- Das Internet hat keinen Geburtsfehler. Das Zitat ist desöfteren von Springer-Vertretern zu hören. Mathias Döpfner hat dies auf einer Keynote bei den Medientagen gesagt – aber auch Bild-Chefredakteur Kai Diekmann hat sich bereits so geäußert. Wegner erinnert daran, dass zu Beginn sehr wohl Paid-Content ausprobiert wurde. Es gab, als das World Wide Web populär wurde, die Debatte, ob das freie Netz oder das geschlossene Netz gewinnen wird. AOL und Compuserve haben für ihre geschlossenen Netze Geld verlangt. Es war völlig unklar, wer dieses Rennen gewinnt. “Als Liberaler glaube ich, dass sich das effektivere System durchgesetzt hat”, so der Chefredakteur. Schon damals haben Verlage versucht ein Paid-System zu finden. Ein weiteres Beispiel war Burda mit Europe Online.
- Das Kernprinzip des Internet ist Effizienz. Hier zeigt Wegner den Nachrichtenautomaten nachrichten.de. Die 500 deutschen journalistischen Nachrichtenangebote produzieren zu 90 Prozent identische Inhalte. Das System Regionalzeitung, dass DPA-Meldungen einfließen läßt, scheine zumindest im Netz an seine Grenze gestoßen zu sein. “Es macht offensichtlich keinen Sinn, immer wieder identische redundante Informationen zu produzieren.”
- Die freie Presse ist nicht gottgegeben. “Wir lehnen uns zu bequem zurück und denken, dass der Journalismus irgendwie überleben wird. Ich glaube, das muss nicht so sein.” Wegner bezeichnet Journalismus historisch als noch junge Gattung, die schnell aussterben kann, wenn sie sich nicht refinanzieren lässt.
- Journalisten müssen Unternehmer werden. Diese “sehr böse” These wird inzwischen auch an Journalistenschulen gelehrt. An der Journalistenschule von Jeff Jarvis müssen die Studenten sogar schon ein Geschäftskonzept mitbringen. Ein Beispiel: Politico.com. Politischer Journalismus wurde hier sehr finanzierbar gemacht.
- Der Artikel wird zum Geschäftsmodell – und darf es keinesfalls werden. Hier geht es um Contentfarmen wie Demand Media. Hier wird geschaut, ob sich jeder einzelne Artikel rechnet oder nicht. Inhalte werden nur dann produziert, wenn sie monetarisiert werden können. Sie werden dann zu genau diesem Betrag (mit Marge) produziert. Das beeinflußt auch den Journalismus.
- Nur originäre Inhalte haben eine Zukunft. Daraus folgt:
- Die neue Ökonomie der Medien gleicht der Ökologie des Regenwalds. Der Regenwald zeichnet sich dadurch aus, dass es den kleinen Farnen ganz unten ganz gut geht. Ebenfalls geht es den Baumriesen, auf denen die Sonne scheint, gut. Beim Regenwald existiere nur der Mittelbau nicht wirklich, so Wegner. “In den mittleren Waldetagen gibt es kaum Leben. Das scheint auch in den Medien zu passieren. Die mittelgroßen, mittelkritischen Medien, wie Regionalzeitungen, sind eher vom Aussterben bedroht, als der Stern. Auch das kleine Gadgetblog wird eher überleben als eine mittelgroße Regionalzeitung.”
- Zeit, Ort und Substrat verlieren ihre Bedeutung. Die Tagesschau-Frage: Wer schaut noch um 20 Uhr die Ausgabe live im Fernsehen? Wegner erwartet aber, dass es noch ewig lange dauert, bis die Broadcast-Medien aussterben werden.
- Niemand braucht Print, Radio und TV. Das Netz ersetzt alle diese Medien.
- Neue Medien verhalten sich parasitär. “Ich habe jetzt noch drei Wochen meinen Job als Chefredakteur bei Focus Online. Ich kann jetzt langsam anfangen die Wahrheit zu sagen. Ich glaube schon, dass Onlinemedien Printmedien User abgraben, Leser abgraben (…) Natürlich sind wir Parasiten!”
- Print, Radio und TV werden noch lange leben. Sei es nur als Totem, wie es Tom Wolfe mal gesagt hat. Nach Wolfe werde die New York Times immer existieren, weil ich sie immer als Totem und als Symbol meiner Intellektualität durch New York tragen könne.
- Parasitismus ist kompliziert nach dem Rieplschen Gesetz der Medien. Das besagt, dass kein Instrument der Information und des Gedankenaustauschs, das einmal eingeführt wurde und sich bewährte, von anderen vollkommen ersetzt oder verdrängt wird (siehe Wikipedia). Wegner glaubt, dass Herr Riepl massiv missverstanden wurde, wenn sich Medienwissenschaftler darauf beziehen und sagen, dass das Fernsehen nie aussterben wird.
- Es entstehen permanent neue Medien.
- Neue Medien mit völlig neuen Metaphern.
- – und neue Formen der Monetarisierung. Zu diesen drei Thesen führte er das iPad an, da es ganz neue Nutzungsformen biete. Wegner findet es so elektrifizierend, dass er sich deswegen entschieden hat, seinen Beruf aufzugeben und Unternehmer zu werden.
- Ein Ökosystem digitaler Magazine entsteht. Beispiel: Der Printspiegel, den es schon am Samstagabend gibt. “Das ist toll, viel besser als das Gedruckte”, schwärmt Wegner.
- Viele Mittelsmänner werden ausgeschaltet. Das wird eine Herausforderung für Kiosk-Besitzer, Agenturen und Zeitungsausträger.
- Die digitalen Medien haben längst nicht zu sich gefunden…
- …und werden noch sehr oft transformiert. Es wird ganz neue Formen geben, die sich sogar anfühlen wie Printmedien.
Diese Thesen hatte Jochen Wegner bereits im Juli an der Akademie für politische Bildung in Tutzing vorgestellt. Diese wurden auch im Blog Nice Bastard dokumentiert. Seinen Vortrag von den Medientagen gibt es auch im Video zum Contentgipfel – leider ist kein direkter Link in der Mediathek möglich.
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